Meine Nachbarin, die Stripperin

Wie jeder andere Mensch, der nach Berlin zieht, war ich mir sicher, dass ich außergewöhnliche Persönlichkeiten treffen würde. Ich hatte jedoch nicht erwartet, dass ausgerechnet eine Stripperin den nachhaltigsten und prägendsten Einfluss auf mein Leben haben würde.

Es war die alternative und progressive Szene, die mich vor fast zehn Jahren dazu brachte, nach Berlin zu ziehen. Ich konnte sein, wer ich wollte, ohne Angst vor Verurteilung: ein Gefühl, das ich nie erlebt hatte, als ich in den Außenbezirken von Paris, der Welthauptstadt der Mode, aufwuchs. Ich wusste, dass die Stadt Berlin viele Möglichkeiten bot, die mir helfen würden, auf verschiedene Arten zu wachsen, und ironischerweise lebte die Person, die mir am meisten helfen würde, die selbstbewusste Person zu werden, die ich heute bin, zufällig direkt vor meiner Haustür: Vivi Sugar.

Als wir uns das erste Mal trafen, fiel mir ihr farbenfrohes Outfit auf und die Freude, die sie ausstrahlte. Als sie mir erzählte, dass sie Stripperin ist, war ich natürlich erstaunt. Ich versuchte, meine Verwirrung zu verbergen: Sie war nicht nur die erste Sexarbeiterin, die ich je getroffen hatte, sondern sie wirkte auch viel zu glücklich und selbstbewusst, um eine zu sein, zu “normal”. Sie passte nicht in das von den Medien verbreitete Bild von Sexarbeiter*innen: Sie wurde nicht von Dritten zu diesem Job gezwungen, sie brauchte nicht dringend Geld, sie hatte ihren Abschluss gemacht… Irgendein tragisches Lebensereignis muss sie doch in diesen Beruf gebracht haben?

Sexarbeit ist Arbeit.

Das Erste, was Vivi mir beigebracht hat, ist, dass Sexarbeiterin zu sein nicht gleichbedeutend damit ist, ein Opfer zu sein. Sie ist durch das Tanzen in diesen Beruf gekommen: Und wenn sie als Frau sowieso sexualisiert wurde – warum sollte sie das dann nicht zu ihrem Vorteil nutzen? Das Patriarchat sagte ihr so oft, dass sie sich für ihren Körper schämen sollte. Nun aber konnte sie genau diesen Körper nutzen, um aus dem Patriarchat Geld zu schöpfen. Durch das Strippen konnte sie die Kontrolle über ihren Körper und ihre Sexualität zurückgewinnen und sich darin wohlfühlen. Und wie jeder andere Job hat auch die Arbeit als Stripperin ihre Vor- und Nachteile, ihre guten und ihre schlechten Tage. Eine Stripperin zu sein, sagt nicht viel mehr über eine Person aus als ihr Beruf. Aber nimm es mir nicht übel: Hör dir an, was Sexarbeiter*innen selbst zu sagen haben. Wenn überhaupt, dann liegt das Problem der Stripclubs in den Händen der Besitzer*innen, die ihre Angestellten zu leicht ausbeuten können, ohne spürbare Angst vor gesetzlicher Bestrafung. Es ist nicht die Sexarbeit an sich, die gefährlich ist, sondern die prekären Arbeitsbedingungen, die ständige Stigmatisierung und die fehlenden Rechte.

Mein Körper, meine Regeln.

Vivi war auch die erste “weibliche” Person (nach gesellschaftlichen Maßstäben), die ich je mit wachsender Körperbehaarung gesehen habe, ebenso wie ihre beiden Mitbewohner*innen und andere Sexarbeiter*innen. Bald erfuhr ich, dass Körperbehaarung unter Sexarbeiterinnen und Sexarbeitern im Allgemeinen nicht ungewöhnlich war. Vivi eroberte nicht nur ihren Körper zurück, der Verzicht auf die Rasur war auch ein Akt der Selbstliebe: Damals hatte ich keine Ahnung, dass Körperhaare schützende Eigenschaften haben. Und als erwachsene, unabhängige Frau wollte sie sich auch als solche präsentieren und ihr Aussehen nicht verkindlichen. Als jemand, der sich schon bei den kleinsten Haarstoppeln auf seinem Körper unsicher gefühlt hatte, war ich schockiert zu erfahren, dass man gleichzeitig feminin, behaart und sexy sein kann. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich meine täglichen Rasiergewohnheiten nie in Frage gestellt. Das ist es, was Frauen tun. Als ich aufwuchs, hatte ich meinen natürlichen Körper gehasst. Ich dachte, eine Frau müsse überall glatt sein, und als haarige Frau hätte ich keine andere Wahl, als mich jeden Tag zu rasieren, wenn ich geliebt werden und mich selbst lieben wollte. Vivi und ihre Mitbewohnerinnen haben mich eines Besseren belehrt: Körperbehaarung hat kein Geschlecht, Körperbehaarung schützt dich, und Körperbehaarung kann verdammt sexy sein.

Vivi und ihre Mitbewohner*innen waren auch die ersten Menschen, die ich je getroffen habe, die sich mit Nacktheit wohlfühlten. Da sie dafür bezahlt wurden, sich in der Öffentlichkeit auszuziehen, war ich nicht so sehr überrascht, dass sie mit nackten Brüsten durch ihre Wohnung liefen, als wäre das die natürlichste Sache der Welt. Aber es hatte etwas Schönes, daran erinnert zu werden, dass es tatsächlich die natürlichste Sache der Welt ist. Als cis Frau erzogen, war mein Körper mit Scham und Tabus behaftet. Ich hatte gelernt, dass mein Körper in seiner natürlichsten Form ein Sexualobjekt ist und ich ihn deshalb so gut wie möglich verstecken sollte. Doch da war ich nun, umgeben von drei Menschen, die aussahen wie ich, die sich weder für ihre Brüste noch für ihr Geschlecht schämten. Und das Unglaublichste daran? Es hatte nichts Sexuelles an sich. Es war das natürlichste der Welt.

 

Obwohl ich schon mehrmals versucht habe, ihr zu sagen, wie dankbar ich bin, sie in meinem Leben zu haben (dieser Artikel inbegriffen), glaube ich nicht, dass ich jemals in der Lage sein werde, auszudrücken, wie sehr. Bevor ich Vivi kennenlernte, war ich von Unsicherheiten über meinen Körper und meinen Wert gelähmt. Sie hat nicht nur meine Ansichten über Sexarbeit und Sexarbeiter*innen völlig verändert, sondern auch über mich selbst. Dank Vivi habe ich neu definiert, was Weiblichkeit für mich bedeutet und entdeckt, dass ich selbst entscheiden kann, wie ich sie ausdrücke. Dank Vivi bin ich selbstbewusster geworden und stolz auf meinen Körper. Dank Vivi habe ich meinen Körper als meinen, und nur meinen, zurückerobert.

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