Bis heute sind offene Räume um über Pornografie zu sprechen rar gesät. Für viele Menschen ist das Thema immer noch schambehaftet oder wird gar als Tabu betrachtet. Pornografie steht in Medien und Wissenschaft häufig in der Kritik und dennoch erwirtschaftet die Branche Umsätze in Milliardenhöhe. Das Bedürfnis, diese Ambivalenz zu verstehen, ist ein wichtiger Grund, weshalb zum Thema Pornografie und Tabus in den sogenannten Porn Studies geforscht wird.
Von Moby’s dick - die zufällige Begegnung mit gay porn als Fügung
Es ist lustig, wie das Leben manchmal so spielt: Eigentlich wollte Madita Oeming ja zur Rezeption von Herman Melvilles Roman Moby Dick in der Kunst forschen. Doch mit dem Suchbegriff „Moby Dick“ stieß sie immer wieder auf pornografische Inhalte. Dildos in Form eines Walpenis und gay porn mit Matrosen-Ishmael in der Hauptrolle, sind nur zwei Beispiele für Inhalte, mit denen sie förmlich überschwemmt wurde. Oeming war fasziniert und fragte sich, warum sich Pornoproduzenten die Mühe machten, eine Geschichte um diesen Literaturklassiker zu spinnen. Schließlich gehe es bei Pornografie ja nur um die Abbildung von Sex – was sollte also dieser Aufwand? Kurzerhand änderte sie Titel und Thema ihrer Abschlussarbeit von Moby Dick zu Moby’s Dick und begann zum Thema Pornografie zu forschen. Das Thema ließ sie auch in den darauffolgenden Jahren nicht los: So folgte ihrer Master-Arbeit eine Promotion zum Mythos Porno-Sucht, heute hält sie regelmäßig Vorträge und gibt Seminare an Universitäten zum Thema Pornografie, Tabus und Gesellschaft. Damit tritt Oeming als Forscherin in die großen Fußstapfen von Dr. Linda Williams, die als Pionierin der porn studies in den späten 1980er Jahren erstmals Porno in den akademischen Kontext brachte.
Die Porn Studies finden ihren Weg in’s Uni Seminar
Doch wie genau kann man sich ein Porno-Seminar an der Universität vorstellen? Oeming erklärt, dass entgegen der Vermutung vieler Menschen nicht etwa einfach das Licht ausgemacht und 90 Minuten lang ein Erotikvideo geschaut wird. Es läuft vielmehr so ab, dass Oeming zu ausgewählte Sequenzen Seh-Aufträge vergibt, also den Hinweis, auf bestimmte Aspekte des Films besonders zu achten. Auf diese Art wird zum Beispiel untersucht, wie Pornos für Frauen mit der Bildsprache herkömmlicher Pornografie brechen.
Eine grundsätzliche Frage der Porn Studies: Was ist Porno überhaupt?
Allem voran steht in den porn studies die Frage, was Porno eigentlich ist. Im Alltag wird Pornografie als explizite Abbildung von Sex vor der Kamera verstanden. Doch fallen damit nicht auch das versendete Nacktbild oder der private Sexfilm unter Produktion von Pornografie? Für Oeming lautet die Antwort: eher nein. Um sich dem Begriff Pornografie verdient zu machen, muss öffentlicher Raum und eine gewisse Kommerzialisierung der Produktion gegeben sein. Dafür braucht es dann aber nicht einmal Sex und Nacktheit: Bei Videos von BDSM Praktiken etwa, wo ein in Plastikfolie gewickelter Mann gewürgt wird, handele es sich aus Perspektive der porn studies um Pornografie, da das Video der sexuellen Befriedigung dient und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird.
Früher Schmuddel, heute Weltliteratur - Die Wandlung von Porno und Tabus
Wie subjektiv die Grenzen beim Pornografie-Begriff verlaufen, zeigt auch ein Blick in die Geschichte. Folgender erotischer Auszug stammt aus „Ulysses“ von James Joyce.
„Die schöne Frau warf ihren zobelbesetzten Umhang ab und enthüllte ihre königlichen Schultern und ihren schwellend gewölbten Leib. Ein unmerkliches Lächeln spielte um ihre vollkommenen Lippen, als sie sich ihm gelassen zuwandte. Mr. Bloom las noch einmal: Die schöne Frau. Wärme überschauerte ihn sanft, sein Fleisch entmutigend. Fleisch gab sich hin inmitten zerwühlter Kleider. Weißes von Augen wurde ohnmächtig. Seine Nüstern wölbten sich nach Beute. Schmelzende Brustsalben (für ihn! Für Raoul!). Zwiebliger Schweiß von Achselhöhlen. Fischleimiger Schleim (ihr schwellend gewölbter Leib!). Fühlen! Pressen! Zerdrückt! Schwefeldung von Löwen!“
Joyce’ Werk wurde nach seiner Erscheinung im Jahr 1922 abfällig als Pornografie bezeichnet, als Tabu behandelt, geahndet und sogar verboten. Heute ist es nicht mehr aus Schulen oder Privatbibliotheken wegzudenken. Kein Wunder, „Ulysses“ gilt mittlerweile als hohe Literatur, wird als das bedeutendste Werk des irischen Schriftstellers gehandelt und selbstverständlich an Universitäten behandelt.
Welche Inhalte als Pornografie betitelt und als Tabu gehandelt werden, sagt folglich viel über die jeweilige Kultur und den Zeitgeist aus.
Tabus können erotisch sein
Porno kann Tabu-Bruch bedeuten. Das liegt daran, dass in Pornofilmen genau das gezeigt werden kann, was im Mainstream als provokant eingestuft würde. Im Umkehrschluss lässt sich also sagen, dass anhand der konsumierten Pornos sehr gut die Tabus einer Gesellschaft sichtbar werden.
Laut Oeming sind zum Beispiel in der westlichen Welt Inzest-Fantasien ein großes Thema. Clips mit Titeln wie „My hot Stepmom“, „Sis loves me“ oder „Forbidden Family Affairs“ sind extrem beliebt. Natürlich schlüpfen die Darsteller*innen nur in die Rolle von Verwandten, bei den Clips handelt es sich nicht um die Dokumentation realen Inzests. Doch Erotik zwischen Verwandten scheint die Fantasie vieler Menschen zu beflügeln. Das heißt aber nicht, dass alle Menschen Sex mit ihren Verwandten haben möchten. Vielmehr scheint es einen besonderen Reiz auszumachen, im Porno etwas zu sehen, was in der Realität verboten ist. Schließlich gehört Inzest zu den letzten großen Tabus unserer Gesellschaft. Dabei ist fraglich, ob diese Bilder im alten Ägypten einen so großen Reiz gehabt hätten, aus dem einfachen Grund, dass Inzest zu dieser Zeit kein Tabu war. Der Reiz des Verbotenen wäre kaum vorhanden gewesen.
Die Geschichte einer Kultur prägt ihre Tabus
Ein anderes Beispiel ist der Pornokonsum in den USA: ein großer Trend in den Suchanfragen auf Porno-Websites ist der Begriff interracial porn, welcher dann zu Ergebnissen à la “White housewife gets kidnapped by five black guys” führt. Hier werden viele durchaus rassistische Klischees bedient. Die Faszination für solche Pornos in den USA kann laut Oeming immer noch auf das Nachwirken der Sklaverei und Segregation und den damit einhergehenden Tabu von Sex zwischen schwarzen und weißen Menschen zurückzuführen sein.
Porn Studies zwischen Bildungsauftrag und Hollywood
Oeming zieht das Fazit, dass sich etwas in uns Menschen nach etwas Verbotenem zu sehnen scheint. Porno ist dieser regelfreie Raum, der zum Ausleben dieser Fantasien mit den herrschenden Tabus einlädt. Wichtig ist ihr: Pornos sind als Fiktion zu begreifen, als einen Ort, an dem Fantasien und kein realistischer Sex abgebildet werden. Sie zieht dabei den Vergleich zu Hollywood-Filmen: Menschen sehen sich einen Blockbuster an um an einer Welt teilzuhaben, in der sie selbst nicht leben. Genauso wird sich in einem Porno der Sex angesehen, den man im realen Leben nicht haben kann und vielleicht auch gar nicht haben will.
Oeming fordert, dass die gesellschaftliche Diskussion sich davon wegbewegen solle, Pornografie einen Bildungs- oder Aufklärungsauftrag abzuverlangen. Es sei nicht die Aufgabe von Pornografie, Themen wie „So funktioniert Sex und so verhältst du dich angemessen“ für junge Menschen zu bespielen. Nichtsdestotrotz erkennt Oeming an, dass es für junge Menschen in der Entwicklung schwierig sein kann, dies zu unterscheiden. Gerade, wenn Porno-Clips auf Authentizität ausgelegt sind und sich damit rühmen, diese zu zeigen, kann es zu unrealistischen Vorstellungen von Sexualität bei jungen Menschen führen. Aus diesem Grund fordert Deming einen offeneren und aufklärenden Dialog über Pornografie und Tabus.
Bei allen Vorbehalten und Tabus: Was kann Pornografie Gutes leisten?
Im gesellschaftlichen Diskurs um Pornografie kommt eine Frage häufig viel zu kurz: Was kann Pornografie eigentlich Gutes leisten? Zum einen ist es schlichtweg eine Erweiterung des Lust-Repertoires: ob alleine oder zu zweit kann der Genuss guter Pornografie die Sexualität erfüllender gestalten.
Gay porn ist für Homosexuelle oft ein Schritt in Richtung Selbstfindung
Hilfreich kann Pornografie auch für sexuelle Minderheiten sein: Homosexuelle Jugendliche konsumieren nachweislich mehr Pornografie. Das dient hier auch unterstützend zur Selbstfindung: der Konsum von homoerotischen Filmen kann als eine Art virtuelles Probehandeln verstanden werden.
Die Darstellung weiblicher Libido und Body Positivity im Porno
Und auch für heterosexuelle Menschen ist der Konsum aufschlußreich: Hier können Zuschauer*innen starke weibliche Lust sehen. Wo, wenn nicht im Porno, sieht man Frauen, die selbstbewusst und frei sagen: „Ich möchte jetzt Sex haben“. Dieser Blick auf die weibliche Sexualität und Libido kann für das Verständnis und die Entwicklung junger Frauen sehr wichtig sein. Zumal es im Porno im Vergleich zu den Mainstream-Medien eine sehr viel größere Vielfalt von Körpern zu sehen gibt, was hinsichtlich der Akzeptanz des eigenen Körpers und Body Positivity toll ist.
Warum also sollte man nicht einen liberaleren Umgang mit Pornografie als Teil der sexuellen Revolution einordnen? Schließlich kann ein unverkrampfter Umgang mit Pornografie zur Folge haben, dass mit Sexualität befreiter und offener umgegangen wird.
Das Ansehen von Pornografie in der Gesellschaft ist und bleibt ambivalent – vermutlich wird sich das auch nie ganz auflösen. Mit ihrer Forschung steuert Madita Oeming einen erfrischenden Blick auf das kontrovers diskutierte Themenfeld der Pornografie, das die Menschen seit Jahrhunderten beschäftigt.